Unvergessen: Der Tod von Kiomars Javadi

Am 19. August jährte sich zum 30. Mal der Todestag von Kiomars Javadi. Daran erinnert die Beschriftung der Bretter am Tübinger Epplehaus: „Kiomars Javadi (+ 19.8.1987) / Todesursache: Rassismus / … und mangelnde Zivilcourage!“

Wer war Kiomars Javadi?
Kiomars Javadi war ein 20-jähriger iranische Flüchtling, der in Deutschland Antrag auf Asyl gestellt hatte. Er suchte hier Zuflucht vor der politischen Unterdrückung in seinem Heimatland. Als Asylsuchender wurde er zwangsweise in der Unterkunft in der ehemaligen Thiepval-Kaserne in der Schellingstraße untergebracht.
Am 19. August 1987 besuchte Kiomars Javadi den heute nicht mehr existierenden Tübinger Supermarkt der „Pfannkuch“-Kette in der Karlsstraße, um sich etwas zu Trinken zu kaufen.
An der Kasse sprach ihn ein Angestellter an, dass er einen Einkaufswagen, den er im Laden abgestellt habe, wieder mit nach draußen nehmen solle. Kiomars versuchte zu erklären, dass er nichts mit dem Wagen zu tun habe. Ein Streitgespräch entspann sich. Daraufhin wurde Kiomars nach Augenzeugenberichten von einem Angestellten von hinten gepackt und gegen seinen Willen in einen Kellerraum verschleppt. Eine Kundin, die vor Javadi an der Kasse stand, gab später bei der Staatsanwaltschaft zu Protokoll: „Sie ließen den Ausländer gar nicht zu Wort kommen. Sie haben ihn von hinten gepackt, so dass seine Füße den Boden nicht mehr erreichten und gegen seinen Willen nach hinten getragen.“
Im Keller konnte er sich offenbar durch einen Biss in den Finger des Angestellten befreien. Zuvor wurde er von dem Angestellten vermutlich misshandelt, denn dieser gestand später, einen Gummiknüppel „fachgerecht gehandhabt“ zu haben. Nach dem Tod von Kiomars Javadi fand die Polizei auch einen Gummiknüppel im Müllcontainer des Supermarkts.
Als die Tür durch den Filialleiter geöffnet wurde, floh Kiomars in den Hinterhof in der Wöhrdstraße. Hier wurde er gegen 17 Uhr von drei Supermarktangestellten gestellt. Er wurde mit Hilfe des Filialleiters gepackt und auf den Boden geworfen und mit dem Gesicht nach unten festgehalten. Der 18-jährige Lehrling Andreas U. nahm das Opfer in den Würgegriff, während der Filialleiter ihm mit einem „schmerzhaften Hebelgriff aus der Karatetechnik“, die Beine verdrehte.
Insgesamt 18 Minuten lang wurde Kiomars nicht aus dem Würgegriff freigegeben. Dies geschah vor den Augen von mindestens 15 gaffenden Zuschauer/innen (nach anderen Berichten sogar 30). Bis auf ein älteres Ehepaar fühlte sich keiner genötigt Kiomars zu helfen und einzuschreiten.
Laut Gerichtsmediziner Volker Schmidt war Kiomars bereits nach vier bis sechs Minuten tot. Die beiden Täter hatten also die meiste Zeit nur noch einen Toten im Würgegriff. Nach 18 Minuten traf die Polizei ein und legte dem Toten noch Handschellen an bis der Krankenwagen kam.
Der Notarzt Dr. Warth berichtete: „Der Befund bei Übernahme war, dass der Patient weite, lichtstarre Pupillen hatte. Es bestand Herzstillstand, Atemstillstand. Er war bereits klinisch tot.”
Unmittelbar nach dem Tod wurde offenbar ein Alibi für die beiden Haupttäter konstruiert, wonach Kiomars beim Ladendiebstahl ertappt worden sei. Man präsentierte der Polizei einen Einkaufswagen, den das Opfer angeblich benutzt haben soll, mit Lebensmitteln, die vorgeblich gestohlen wurden. Jedoch fanden sich keine Fingerabdrücke von Kiomars Javadi auf den Lebensmitteln. Echte Ladendiebe verwenden auch nie Einkaufswagen zum Diebstahl. Angeblich habe sich Javadi einen Einkaufswagen mit Ware voll gestopft und versucht durch die Hintertür zu fliehen.

Im 1988 stattfindenden Prozess trat Javadis Ehefrau Marjan als Nebenklägerin auf. Als Javadis Witwe einmal ums Wort bat, schnitt Richter Dippon ihr so barsch das Wort ab, dass sie weinend aus dem Gerichtssaal lief. Zitat: „Mäßigen Sie sich, auch wenn Sie aus dem Orient kommen”. Der Täter dagegen wurde sehr höflich behandelt. Sowohl die Zeugenaussagen der Täter als auch die Angaben des übrigen Pfannkuch Personals waren auffällig „einheitlich“.
Dem Staatsanwaltschaft genügte als Tatmotiv, die angebliche Verhinderung von Ladendiebstahl. Die wahrscheinlich rassistischen Hintergründe und ein bedingter Tötungsvorsatz waren vor Gericht kein Thema. Sogar die Täter selbst sagten vor Gericht, dass es sich eigentlich gar nicht um einen Ladendiebstahl gehandelt hätte.
Am 30. Juni 1988 wurde nach einem kurzen Prozess das Urteil gegen die beiden Pfannkuch-Mitarbeiter verkündet. Die beiden Täter bekamen eine Freiheitsstrafe von 18 Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. In seinem Urteil berief sich der Richter auf einen Präzedenzfall, in dem ein Polizist einen Jugendlichen im Würgegriff tötete und ebenfalls fast straffrei davonkam.
Keiner der Gaffer wurde wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagt.

Zu dem Mord an Kiomars Javadi produzierte 1991 der Filmemacher Rahim Shirmahd, ein Freund Javadis, den sehenswerten 20-minütigen Schwarzweiß-Film „18 Minuten Zivilcourage“.

Obwohl in Tübingen an jedem zweiten Haus eine Gedenktafel hängt, gibt es bis heute keine Tafel, die an Kiomars Javadi erinnert.

Dreißig Jahre danach brennt es noch immer
Kiomars Javadi starb in einer Zeit, in der in der westdeutschen Gesellschaft ein rassistischer Diskurs, auch über Geflüchtete, stattfand. In den Zeitungen war die Rede von „Scheinasylanten”, „Wirtschaftsflüchtlinge” oder „Asylanten-Schwemme“. Eine regelrechte Pogrom-Stimmung machte sich in Teilen der Bevölkerung breit. Unions- und SPD-Politiker/innen versuchten sich auch über rassistische Aussagen die Wählergunst zu sichern. In dieser aufgeheizten Stimmung kam es zu Morden und die rechtspopulistische Republikaner-Partei schafft es 1989 in Berlin und bei der Europawahl über die 5-Prozent-Hürde zu springen.

Doch auch dreißig Jahre nach dem Tod von Kiomars Javadi brennen die Flüchtlingsheime und die Brandursache lautet Rassismus. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt gab es 2016 auch bereits den ersten Toten. In Waldbröl bei Bonn erschlugen vier Nazis am 1. September 2016 einen Mann. Sie waren mit Baseballschläger und Schlagring losgezogen, um Flüchtlinge zusammenzuschlagen. Die Nazis griffen auch eine Gruppe Flüchtlinge an, die sich jedoch wehrte. Daraufhin wählten sie ein Zufallsopfer und ermordeten den Mann.
Hinzu gesellen sich weitere Verdachtsfälle.
Eine rechtspopulistische Partei sitzt in Deutschland inzwischen in 13 Landesparlamenten und schickt sich an auch in den Bundestag einzuziehen. Auch mit dem Feindbild Flüchtling gelingt es der AfD Menschen zu mobilisieren. In Tübingen tritt mit Dubravko Mandic ein AfD-Hardliner an, der seine Partei als eine bürgerliche NPD versteht.

Währenddessen geht das stille Sterben auf dem Mittelmeer weiter. NGOs, die mit eigenen Schiffen versuchen Seenothilfe zu leisten, werden derzeit unter Schlepper-Verdacht gestellt.
Die Fluchtrouten werden durch Türsteher der Regierungen Europas bewacht. Bei der Auswahl scheut macht man aus seinem Herzen keine Mördergrube Erdogan in der Türkei und Bürgerkriegs-Milizen in Lybien. Mit der Militärdiktatur in Eritrea wird auch ein Pakt geschlossen, um gleich am Anfang der Flucht anzusetzen.

So hat sich seit dem Tod von Kiomars Javadi leider kaum etwas verbessert. Trotzdem werden wir weiter aktiv sein gegen Rassismus, das Grenzregime und alle seine UnterstützerInnen, egal aus welcher Partei.