Ein Brief an das Ract! Festival

*TRIGGERWARNUNG*

Im Folgenden Text wird sexualisierte Gewalt thematisiert. Bitte lese ihn nur, wenn du stabil genug bist. Wenn du dir unsicher bist, kann du ihn z.B. an einem für dich sicheren Ort und zusammen mit einer vertrauten Person lesen.

Die folgende Email wurde Anfang des Jahres von der Unterstützer*innen Gruppe an das Orga-Team des Ract!-Festivals in Tübingen geschickt und später auf der Seite tueinfo veröffentlicht. Da die Seite tueinfo aber nicht mehr existiert, möchten wir dieser Email und den Geschehnissen, mit der Erlaubnis des Unterstützer*innen Kreises, auf unserer Homepage wieder eine Plattform bieten.

“ Liebe (Wohn-)Projekte,

    die folgende Email ging als erstes an die Orga-Struktur des Ract!
    Festivals. Wir machen den Inhalt der Email öffentlich und schreiben euch
    direkt an, da das Ract! Festival unter anderem durch verschiedenen
    Projekte und Gruppen wie euch möglich gemacht wird und ihr auch direkt
    über die
    nachfolgend geschilderten Geschehenisse informiert sein solltet.

    Leitet die Email gerne weiter, falls bestimme Projekte als
    Adressat*innen nicht auftauchen.

    Liebe Grüße,

    Schwarz-Roter-Ring

    ————————-

    Liebes Ract-Team!

    Wir wenden uns mit diesem Schreiben an euch, um den verheerenden Umgang
    mit sexualisierter Gewalt in euren Reihen zu thematisieren.
    Ziel dieses Schreibens ist es, einen politischen Umgang mit den
    Vorfällen zu finden und gleichzeitig die Handlungsfähigkeit betroffener
    Personen zu fördern.
    Wir veröffentlichen es, da wir eine allgemeine Auseinandersetzung mit
    dem Passierten und der Thematik forcieren wollen.

    Ihr, das Ract!-Festival seid eines der größeren politischen
    Umsonst&Draußen Festivals in Deutschland. Laut euren eigenen
    Selbstansprüchen stellt ihr euch unter anderem gegen jegliche Form von
    Sexismus, Rassissmus und Nationalismus.       
    So zählt ihr zu euren Partner*innen unter anderem die Anlaufstelle
    sexualisierte Gewalt in Tübingen für Frauen*Männer (AGIT) und es gibt
    auf dem Festival seit einigen Jahren eine Awareness-Struktur.

    Entsprechend wird das Ract! jedes Jahr von einer Anzahl linker Projekte
    in Tübingen und darüber hinaus unterstützt. Dies geht von materieller
    und organisatorischer Unterstützung bis zum Anbieten von Räumen für
    Soli-Partys und Schlafplätze für Arbeitende.

    Zu den Geschehnissen:

    Im Spätsommer 2019 wurde euer Plenum darüber informiert, dass eine
    Person aus euren engen Orga-Strukturen gegenüber einer anderen Person
    (außerhalb dieser Strukturen) sexualisierte Gewalt ausgeübt hat. Dies
    wurde von Unterstützer*innen der betroffenen Person an euch
    herangetragen.

    Die Forderung lautete, die gewaltausübende Person vorerst aus den
    Orga-Strukturen auszuschließen. Auch wurden Hausverbote in mehreren
    Wohnprojekten ausgesprochen, damit die betroffene Person diese Orte
    aufsuchen kann und nicht mit der Anwesenheit der gewaltausübenden Person
    rechnen muss. Schließlich sollte ihre Bewegungsfreiheit nicht
    eingeschränkt werden.

    Zunächst seid ihr auf diese Forderung auch eingegangen und habt die
    gewaltausübende Person aus eurer Struktur vorerst ausgeschlossen. Im
    Oktober [2019] sollte dann erneut über den Umgang mit dem Vorfall
    entschieden werden. Diesen ersten Schritt begrüßten wir als
    Unterstützer*innen der betroffenen Person sehr!

    Dennoch ist die gewaltausübende Person nach kurzer Zeit wieder in die
    inneren Strukturen aufgenommen worden. Die offizielle Begründung in
    Bezug auf die Wiederaufnahme war, dass es keine Beweise für die Tat gäbe
    und man Neutralität bewaren müsse. Sich darauf zu berufen,dass es keine
    Beweise gäbe, stellt aber keine Neutralität dar. Damit wird aktiver
    Täterschutz betrieben. Die gewaltausübende Person bekommt ihren
    Platz wieder und muss sich nicht mit ihrem Verhalten auseinandersetzen.
    Außerdem stellt diese Aussage die Perspektive der betroffenen Person
    komplett in Frage.

    Die Entscheidung der Wiederaufnahme fiel außerdem ohne die
    Unterstützer*innen der betroffenen Person in Kenntnis zu setzen. So
    zeigt ihr, dass ihr sexualisierte Gewalt nicht ernst nehmt, gar
    verleugnet und keine Verantwortung übernehmen wollt, wenn Personen aus
    euren eigenen Reihen sexualisierte Gewalt ausüben. Für uns bedeutet das,
    dass die Stimme der betroffenen Person (die über die Unterstützer*innen
    getragen wurde), bei dieser Entscheidung nicht gehört werden wollte.
    Gleichzeitig wurden Teile der Unterstützer*innen der Betroffenen letzten
    Sommer sogar persönlich angegangen und von Ract! Plena ausgeschlossen.
    So wurde ein adäquater Austausch eurerseits verhindert. Die
    Unterstützer*innengruppe sah sich gezwungen, unter anderem schriftlich
    ein Statement zu verfassen. Dieses sollte den Vorwürfen ihnen gegenüber
    begegnen und bestenfalls eine Klärung herbeiführen. Dieses Statement
    konnte einige Missverständnisse klären und es schien so, als hättet ihr
    Verständnis für das Anliegen der Unterstützer*innen Gruppe gehabt. Dass
    die gewaltausübende Person nun doch wieder Teil der inneren Strukturen
    ist, können wir kaum fassen.

    Dabei möchten wir noch mal betonen:
    Wir sehen generell die Lösung nicht in permanenten Ausschlüssen und
    erachten Ansätze wie transformative justice oder community
    accountability als weitaus sinnvoller. (Infos darüber weiter unten im
    Text)
    Allerdings wird im konkreten Fall nicht auf die Wünsche der betroffenen
    Person gehört. Mit der Betroffenen parteiische Personen werden
    konsequent ausgeschlossen und der Vorfall somit banalisiert. Wir halten
    das für kein Umfeld, in dem diese Ansätze aktuell angewandt werden
    können.

    Bei einem anderen Fall von sexualisierter Gewalt während des Festivals
    vor einigen Jahren wurde beispielsweise sofort reagiert und
    durchgegriffen. Hierbei handelte es sich um eine Person, die nicht Teil
    der engeren Orga-Strukturen war. Es ist nun sehr verwunderlich, dass das
    Vorgehen, wenn es sich um eine Person der engeren Orga-Struktur handelt,
    ganz anders ist!

    Des Weiteren haben wir immer wieder von Vorfällen sexistischer
    Machtausübung aus euren Reihen mitbekommen. So werden gerne mal junge
    Mädchen umsonst auf Aftershow-Parties gebracht, um sich dadurch
    letztendlich mehr von ihnen zu erhoffen. Auch ist es wohl ein Spiel
    unter den Helferkoordinatoren, sich darüber auszulassen, welche Helferin
    man sich schon „angeln“ konnte. Diese Form von Sexismus und
    Machtausübung müsst ihr dringend thematisieren, wenn ihr euren eigenen
    Ansprüchen gerecht werden wollt.

    Einordnung:
       
    Bei Vorfällen von sexualisierter Gewalt ist es grundsätzlich wichtig,
    die betroffene Person ernstzunehmen und sie in Entscheidungen
    miteinzubinden und zu informieren. Diese Chance habt ihr leider nicht
    wahrgenommen. Stattdessen wurde nur die gewaltausübende Person gehört,
    mit dem Ergebnis, diese wieder aufzunehmen. Wir ordnen dieses Vorgehen
    als verharmlosend dem gegenüber ein, was die betroffene Person erfahren
    musste. Auch eurem Wunsch genauer wissen zu wollen, was direkt passiert
    ist, können wir nicht nach gehen. Das ist einzig und allein Sache der
    betroffenen Person, ihre Privatsphäre muss geschützt werden. Es tut auch
    nicht zur Sache, was genau im Detail vorgefallen ist. Die Frage danach,
    was „wirklich“ passiert ist, setzt außerdem voraus, dass es eine
    objektive Realität gibt. Doch sexualisierte Gewalt wird aufgrund der
    persönlichen Geschichte, Gegenwart und Erfahrung von Betroffenen
    unterschiedlich erlebt, eingeordnet und eingeschätzt. Wenn eine
    Betroffene einen sexualisierten Übergriff als solchen bezeichnet, dann
    entspricht das ihrer Wahrnehmung und ist genauso zu akzeptieren. Ihr
    wisst Bescheid über die Art der Gewalt, welche ausgeübt wurde und mehr
    ist nicht nötig, um sich damit auseinander zu setzen und entsprechend zu
    reagieren.

    Forderungen:

    Wir wollen und können dieses Verhalten nicht tolerieren und fordern
    daher das Ract! Festival auf, die eigenen Strukturen grundlegend zu
    überdenken. Es muss eine ernsthafte und transparente Auseinandersetzung
    mit den Geschehnissen passieren.
    Eine langfristige Begleitung, wie beispielsweise durch Supervision oder
    professionelle Beratungsstellen, sind deshalb dringend notwendig.
    Hierbei ist notwendig, dass ihr euch unter Anderem Gedanken über
    Parteilichkeit, Definitionsmacht und Transformative Justice macht.

    Infos dazu findet ihr hier:

       
    –
    https://www.transformativejustice.eu/en … ubernahme/

    – http://defma.blogsport.de/material/

    Wir fordern, dass Verantwortung übernommen wird und diesen sexistischen
    Zuständen eine kritische Auseinandersetzung entgegengebracht wird. Wir
    wünschen uns somit auch, dass Menschen oder Gruppen, die das Ract!
    anderweitig unterstützen, sich unseren Forderungen anschließen.

    Außerdem fordern wir alle Mitlesenden dazu auf, keine Gerüchte zu
    verbreiten und die Privatsphäre der Betroffenen zu schützen!

    Abschließend ist zu sagen…

    Es geht uns nicht ausschließlich darum, das Ract! Festival an den
    Pranger zu stellen.
    Uns ist wichtig, dass sexuelle Übergriffe nicht im Geheimen bleiben und
    ein angemessener Umgang damit stattfindet.
    Wenn das gelingt, ist dieses selbstverwaltete und selbstgestaltete
    Projekt auch zukünftig wieder unterstützenswert.
    Hierfür solltet ihr als Ract!-Orga dieses Schreiben ernst nehmen und
    ganz genau hinschauen, inwiefern eure Strukturen sexistisch und
    antifeministisch sind.

    Schwarz-Roter-Ring “

 

Wir möchten uns an dieser Stelle ganz klar mit der betroffenen Person und dem Unterstützer*innen Kreis solidarisieren.

Wir sahen und sehen uns gezwungen auf die Ereignisse zu reagieren und haben dementsprechend unsere Kooperation mit dem Ract! Festival bis auf Weiteres beendet. Gründe sind unter anderem, dass bis heute keine gründliche und transparente Aufarbeitung des Vorfalls, sowie dem eigenen Umgang des Ract!-Teams damit stattgefunden hat.

Schade und enttäuschend, dass ein Festival wie das Ract!, dass einen Awarenessanspruch an sich selbst hat, sich bis heute nicht zu diesen Vorfällen geäußert hat.