Epple-Beitrag für die Kundgebung am 08.10.2016

Epple-Beitrag für die Kundgebung der Zelle am 08.10.2016 in Reutlingen.

Seit über 48 Jahren existiert in Reutlingen mit wechselnden Standorten das selbstverwaltete Projekt Kulturschock Zelle. Generationen junger Menschen lernten hier eine direkte Form von Demokratie kennen und organisierten in Eigenregie zahllose kulturelle und politische Veranstaltungen – immer mit der Zielsetzung für möglichst alle bezahlbar zu bleiben und immer wieder unter stadtpolitisch widrigen Bedingungen. Mit der Zelle steht Menschen aus Reutlingen und Umgebung ein Raum zur Verfügung, in dem menschenfreundlichere Gesellschaftsentwürfe diskutiert, Autoritäten hinterfragt und die verschiedenen Diskriminierungsformen, die diese Gesellschaft hervorbringt, kontinuierlich thematisiert und angegangen werden. Nicht zuletzt ist der Verein als gemeinnützig anerkannt und Träger der außerschulischen Jugendbildung.

Nun ist die Zelle ein weiteres Mal existenziell gefährdet: Das Reutlinger Ordnungsamt droht, sämtliche eintrittspflichtigen Veranstaltungen zu verbieten und die Zelle somit ökonomisch in die Knie zu zwingen.

Dies ist der vorläufige Höhepunkt einer ganzen seit Jahren andauernden Serie von Maßnahmen, bei der sich die Behörde mit Ehrgeiz, bemerkenswerter Kreativität und hoher personeller sowie finanzieller Einsatzbereitschaft hervorgetan hat. Wer sich die in all dieser Zeit gegen die Zelle gerichteten Vorwürfe und Maßnahmen im Einzelnen anschaut, stellt erstens fest, dass sie inhaltlich nicht zusammenhängen und gewinnt zweitens den Eindruck, dass sie dennoch demselben Ziel dienen: Der Disziplinierung eines politisch unbequemen Jugendzentrums. Dementsprechend beliebig sind die rechtlichen Mittel. Ob Gaststättengesetz oder Polizeigesetz, ob der Vorwurf lautet, die Zelle sei kommerziell oder die Zelle sei kriminell – solange die Zelle-Selbstverwaltung auf ihrer antiautoritären Geisteshaltung bestehen bleibt, wird sie keinen Frieden haben. So sieht es jedenfalls aus und vielleicht soll es ja auch so aussehen. Dennoch hat sich die Zelle bisher nicht einschüchtern lassen und steht nach 4 Jahren kräftezehrender Auseinandersetzung immer noch hier, um ihre Grundprinzipien zu verteidigen.

Es folgt nun ein Überblick über die verschiedenen Etappen dieser Auseinandersetzung, so wie wir sie wahrgenommen haben:

Gehen wir zurück ins Jahr 2012: Nach 40 Jahren Selbstverwaltung verfiel die Stadt Reutlingen plötzlich der Auffassung, dass die Zelle unbedingt als gewinnerwirtschaftende Gastronomie einzustufen sei und dementsprechend eine Gaststättenkonzession brauche. Dies hätte weitreichende Folgen, insbesondere für die Grundprinzipien Basisdemokratie, Selbstverwaltung, Ehrenamt. Gleichzeitig ist die Stadt Reutlingen Vermieterin der Zelle und sollte sich der – für ein Jugendzentrum – beschissenen Konditionen des Mietvertrages bewusst sein: Allein für Miete und Nebenkosten fallen monatlich rund 1400€ an. Außerdem werden die Instandhaltungskosten auf die Zelle abgewälzt und schlagen alle paar Jahre mit bis zu fünfstelligen Beträgen zu Buche. Die Konsequenz? Da die Selbstausbeutung der Ehrenamtlichen allein noch keinen Gewinn abwirft, wurde der Verein zunehmend abhängig von Großveranstaltungen mit höherem Eintritt und mehr Umsatz. Diese finden heutzutage, wie auch die Stadtverwaltung einsehen wird, jedoch nicht (mehr) im Bereich zwischen Jazz und Punk statt, sondern eher zwischen Techno und Trance. Mit anderen Worten: Die Stadt zwingt die Zelle-Ehrenamtlichen über den Mietvertrag zur regelmäßigen Durchführung von Raves.

Das hat eine Reihe schöner (und vor allen Dingen sehr gut besuchter) Veranstaltungen, aber auch die üblichen Probleme hervorgebracht. Die Polizei reagierte darauf mit massiven „milieuspezifischen“ Kontrollen, belagerte die Zelle bei Großveranstaltungen, schikanierte ihre Gäste und trat ihren MitarbeiterInnen bzw. vermeintlichen MitarbeiterInnen gegenüber teilweise sehr aggressiv auf. Skandalisiert wurden dieses Auftreten über das Zelle-Umfeld hinaus, als Mitglieder des Reutlinger Jugendgemeinderates davon betroffen waren.

Gleichzeitig ging die Stadt dazu über, der Zelle aufgrund der Großveranstaltungen, die Erwirtschaftung von Gewinn vorzuwerfen – womit ihr auf dem unrühmlichen Weg, ein selbstverwaltetes Jugendzentrum Schachmatt zu setzen, beinahe ein taktisches Meisterwerk gelungen wäre: Macht der Verein Galerie Zelle keinen nennenswerten Gewinn, kann er die Miete nicht bezahlen und wird dem Willen der Stadt unterworfen; macht er Gewinn, braucht er eine Schanklizenz und soll sich wie eine gewinnorientierte Gastronomie verhalten.

Frühjahr 2014: Die Zelle klagte dagegen und es wurde ein gerichtlicher Vergleich geschlossen. Zwar hatte die Stadt sich nicht durchsetzen können, doch dem Ordnungsamt steht seitdem ein neues Machtinstrument zur Disziplinierung der Zelle zur Verfügung: Für Veranstaltungen, die mehr als 5€ Eintritt kosten, muss eine Genehmigung eingeholt werden. Diese kann mit Auflagen verbunden oder auch einfach verweigert werden. Um die Entscheidungsgewalt über unliebsame Veranstaltungen auch dann zu behalten, wenn der Eintritt diese Grenze nicht übersteigt, wurde die Regelung aus dem Vergleich als Hebel verwendet, um die Zelle zu erpressen: Sollte Veranstaltung X stattfinden, würde man Veranstaltung Y nicht genehmigen. Während die Stadt weiterhin Rechnungen ausstellte und monatlich die Miete kassierte, stand die Zelle wieder im Schach.

Als die Zelle versuchte den letzten ihr verbleibenden Spielraum zu nutzen, indem sie mit den Eintrittspreisen konsequent unter 5€ blieb, wechselte das Ordnungsamt im Frühjahr 2016 einfach die rechtliche Grundlage seiner Verbotshysterie, argumentierte plötzlich mit dem Polizeigesetz und einer angeblichen Gefährdungslage und drohte mit einer allgemeinen Verbotsverfügung für sämtliche eintrittspflichtigen Veranstaltungen.

Diese Verbotsverfügung schwebt nun über der Zelle. Ihre Vollstreckung wäre dann endgültig Schachmatt.

Wir fragen uns:

Wie kann man eine derartige Geringschätzung für die ehrenamtliche Kulturarbeit junger Menschen aufbringen?

Wie kann es sein, dass ein Amt für öffentliche Ordnung, in einer Stadt, die offensichtlich ganz andere Probleme hat, derart viel Zeit und Ressourcen für die Bekämpfung eines selbstverwalteten Jugendzentrums einsetzt?

Uns drängt sich das Bild auf, dass es sich hier im Wesentlichen um einen ideologisch motivierten Kleinkrieg einiger Funktionäre aus der Kommunalverwaltung gegen ihr ganz persönliches Feindbild handelt.

  • Schluss damit! Lasst die Zelle in Ruhe!
  • Wir fordern die Disziplinierung des Reutlinger Ordnungsamtes.
  • Wir fordern, dass der Zelle im Dialog auf Augenhöhe begegnet wird und ihre Selbstverwaltung & Basisdemokratie als genauso unumstößliche Prinzipien behandelt werden, wie die hierarchische Kommandostruktur der Stadtverwaltung.
  • Wir fordern einen Mietvertrag, der es der Zelle ermöglicht Kultur- und Politveranstaltungen ohne den Druck monatlicher Fixkosten durchzuführen.

Mehr Informationen gibt es unter: https://zelle-bleibt.de/

1 Weitere 1300€ Fixkosten entstehen durch den laufenden Veranstaltungsbetrieb.
Quelle: https://kulturschock-zelle.de/2016/07/22/ein-einblick-in-die-kosten-ausgaben-der-zelle/

2 Jugendgemeinderäte beklagen massive Polizeikontrollen nach Gespräch mit Zelle-Mitarbeitern. Südwest Presse (28.03.2013)